Oasen der Rechtwinkligkeit.

Letztendlich haben Sie bereits gesehen, was passiert ist, es geht also lediglich um die Reihenfolge der Geschehnisse, wenn ich das richtig verstehe? Sie nicken, gut.

Sicher haben Sie auch schon ein Urteil gefällt, über mich, oder legen es sich gerade in Gedanken zurecht, genauso wie ein Bild meiner Familie, also, wie die so sein könnten, und haben sich natürlich gewundert, warum mich niemand zu dieser Veranstaltung begleitet hat, außer Frau Kernberg, wo meine Mutter und Schwester denn seien, werden Sie sich fragen, und meine Situation darauf zurückführen, dass etwas in meinen Lebensverhältnissen und damit schließlich auch mit mir grundsätzlich verquer ist und die ganze Angelegenheit und der Ärger, den Sie nun haben, darauf zurückzuführen sind.

Als die Polizei damals bei uns auf den Hof fuhr, um die Schmierereien zu inspizieren - so hat Frau Kernberg sie stets genannt, „Schmierereien”, dass es einen Begriff dafür gibt, das habe ich erst später erfahren, von einer Klassenkameradin, die mit mir im Förderprogramm ist – da sickerte eine Wahnsinnsunruhe ins Schulgebäude, merkwürdige Schauder gingen über die Flure, und wir brauchten eine ganze Weile länger als sonst, bis wir das Klassenzimmer erreichten, woran in meinem Fall niemand Anstoß nahm, da ich Teil des Förderprogramms bin. Meine Mutter hatte auf dem Anmeldeformular für die Grundschüler lediglich eine Reihe falscher Häkchen gesetzt, die aber nie wirklich moniert oder angezweifelt wurden, auch von ihr nicht, und meine eigenwillige Sprechart, die sich offensichtlich von der anderer Kinder meines Alters unterscheidet, sorgte schlussendlich dafür, jeden Restzweifel diesbezüglich zu ersticken. Zudem habe ich ein hauseigenes Faible für Rechtwinkligkeit, falls das für Ihren Bericht relevant ist, daher können Sie nachvollziehen, dass das H., das auf unserer Schulwand aufgetaucht war, eine außerordentliche Faszination in mir hervorrief. Also, verstehen Sie mich nicht falsch, keine Faszination für das H. selbst oder seine Bedeutung, von der ich, ehrlich gesprochen, auch nicht sehr viel weiß. Es war eher die Aura, die alle Lehrerinnen und Lehrer dem H. verliehen, es war die Angstwut, mit der Herr Schönknecht, der unser Hausmeister ist, die schwarze Farbe so lange erfolglos mit Lösungsmittel abrieb, bis er eine Firma kommen ließ, die seinen Job erledigte, was er mit resigniertem Murmeln quittierte.

Mir fiel dabei auf: Herr Schönknecht besaß einen beachtlichen Handumfang, riesige Pranken, die aber im Vergleich zum H., das er verzweifelt von der Wand zu lösen versuchte, phänomenal winzig ausschauten. Was ich damit sagen will, und das war sicherlich auch die Absicht derer, die das H. an unsere Schulwand sprühten: der Blick darauf war unvermeidbar, und es dauerte Tage, bis die Reinigungsfirma es mit einem speziellen Druckstrahl entfernte. Ich hatte daher, lassen Sie mich rechnen, gut acht bis zehn Hofpausen, in denen das H. mich zu sich lockte - ein Ruf, dem ich und einige andere Kinder regelmäßig so lange nachgingen, bis wir die Patrouille der Pausenaufsicht in unsere Richtung kommen sahen. Viele meiner Mitschüler verstehen sich nicht auf die Art, wie ich spreche, und so standen wir meist einfach sprachlos in der puren Aura dieses uns unverständlichen Kunstwerks.

Die Sprühfarbe an der Wand sowie die außergewöhnliche Situation auf dem Hof lösten sich zeitgleich und sehr zügig auf. Ich jedoch, und an dieser Stelle werden Sie verstehen, warum ich meine Neigung für rechtwinklige Körper, Objekte oder Figuren nicht unter den Tisch fallen lassen wollte, trug meine Faszination für dieses fremde Symbol mit in das Klassenzimmer und bis in den Korrekturrand meines Schreibhefts hinein, auf dem ich geistesabwesend begann, das getilgte Zeichen so nachzubilden, wie meine Erinnerung es mir vorgab. Minuten später, als ich aus meiner Träumerei erwachte, war mir sehr schnell sehr klar, dass ich, sosehr diese Oasen der Rechtwinkligkeit in mir auch eine tiefe Seelenruhe auslösten, in jedem Falle vermeiden musste, dass Frau Kernberg die Zeichnungen während des Unterrichts zu sehen bekam.

Ich begann damit, die H. zügig in rechteckige Fensterrahmen zu verwandeln, aber bereits kurz darauf fürchtete ich mich so sehr davor, dass Frau Kernberg die seltsamen Fenster in meinem Schreibheft erkennen könnte, dass ich begann, passende Reihenhäuser, Türen, Balkonanlagen, Blumen- und Briefkästen, Grünanlagen mit Rhododendren, Parkplätze mit gehobenen Mittelklassewagen, Carports, Solarpaneele, Treppen und Treppengeländer, abschließbare Mülltonnen und verkehrsberuhigte Spielstraßen um sie herum zu kreieren, nur um die anfänglichen, schlecht versteckten Symbole zu tarnen. Trotzdem war mir immer noch so, als würden mich meine Fenster aus dem Papier heraus anschreien, als würden sich meine Augen zwangsläufig in ihnen verhaken, jedes Mal, wenn ich einen Blick auf die Seiten warf, bis mir offenbar wurde, dass eine Reihenhausallee alleine nicht reichen, dass es eine ganze Stadt voller bleistiftgrauer Ablenkungsmanöver benötigen würde, um die verdächtigen Fenster in den noch verdächtigeren Häusern vor der Außenwelt zu verbergen.

Ich begann also, noch immer unentdeckt von den durch die Reihen streifenden Blicken Frau Kernbergs, meine Straßen in Kreuzungen zu verwandeln, Abzweigungen zu schaffen, wo vorher nur Sackgassen waren, und das Netz einer Kleinstadt zu weben, in der ein einzelnes Fenster und die Wahrheit dessen, was dahinter lebt, zwangsläufig in der Masse des Gebotenen untergehen musste: Kirchturmspitzen, deren scharfer Schatten über Kaufhäuser, Einkaufsstraßen, Containerhäfen und Anlegeplätze, Hochbahnanlagen, Bürokomplexe und Parkhäuser fiel, gefüllt mit schraffiert-grauen Menschen, die von dem, was in ihren Fenstern wohnte, nichts wussten, die sorglos den Ausblick genossen, während sich vor ihrer Haustür stets neue Linien entlangzogen, die so weit reichten, dass nicht nur der Korrekturrand meines Hefts, sondern auch die Seiten selbst nicht mehr genügten, um die Kleinstadt, die ich als Flucht vor den verräterischen Fenstern gestaltete, fassen zu können, eine Kleinstadt, die sich mittlerweile gefräßig über die Seitenränder hinaus durch mein Heft wand.

Ich spürte, wie ich eine ungesunde Obsession entwickelte, die ich bereits an anderen Mitschülern und Mitschülerinnen meines Förderprogramms beobachten konnte und die in mir Zweifel aufkeimen ließ, ob es tatsächlich ein Formfehler meiner Mutter gewesen war, der zu meiner Versetzung geführt hatte. Ich vergrub das Schreibheft unter einem Stapel von Büchern und Fibeln in meinem Ranzen, ließ den Verschluss zuschnappen und verließ, ohne auf das Klingeln zu warten, den Klassenraum.

Auf dem Heimweg fühlte ich mich, als wäre ich Beute geworden. Sicherlich werden Sie an diesem Punkt mittlerweile ahnen, dass mir das Zeichnen keinesfalls Freude bereitet hatte, sondern ein Fluchtversuch gewesen war, um der dunklen Faszination des H. zu entkommen. Die Zeichnungen einfach entsorgen konnte ich nicht, da Frau Kernberg regelmäßig unseren Fortschritt anhand der Eintragungen im Heft überprüfte.

Solange ich auf dem Heimweg zwanghaft versuchte, nicht daran zu denken, drängten sich mir die realen Fenster unserer Reihenhaussiedlung immer stärker und unnachgiebiger ins Bewusstsein. Schlimmer noch, ich dachte jetzt, dass ich es war, der dieses furchtbare Symbol zurück in unsere Reihenhaussiedlung geschleppt hatte, wie einen Parasiten, der sich an meinem Fuß festgesaugt und so in einem unbeobachteten Moment Zutritt verschafft hatte.

Das war der erste Moment, in dem ich ein beharrliches Gefühl von Schuld auf mir spürte, das meinen Körper tiefer und tiefer in die Matratze meines Betts hineindrückte. Ich litt schon seit jeher unter einem ausgeprägten moralischen Kompass, daher war ich überrascht, so lange durchgehalten zu haben - eine Überraschung, die jedoch sehr schnell einem neuen Gefühl, einem nie dagewesenen Verlangen wich, Frau Kernberg das Heft zu zeigen und zu gestehen. Mir war klar, dass die Wahrheit, in der Länge, wie ich sie Ihnen gerade erzähle, nichts war, was ich in einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden vor ihr auspacken könnte, ohne dass sie mich für einen - was rede ich, Sie wissen ja, warum wir dieses Gespräch führen, und ich hatte damals eine Ahnung, dass Frau Kernberg ähnlich reagieren könnte wie Sie.

Es nützte ja nichts. Am nächsten Tag schwitzte ich mich von Stunde zu Stunde, in der Hoffnung, einen möglichst idealen Zeitpunkt für mein Geständnis abpassen zu können.

Für die vierte Stunde war ein Diktat angekündigt. Da mein Schreibheft zwangsläufig in den Stapel mit allen anderen Heften hineinwandern würde, wartete ich danach, bis ich der einzige im Klassenraum war, legte Frau Kernberg das Heft, bereits geöffnet, oben auf den Stapel, und verließ ohne ein weiteres Wort die Klasse.
Das Echo ließ selbstverständlich nicht lang auf sich warten. Bereits zwei Tage später rief die Schulleitung meine Mutter und mich ins Büro. Die Aussicht darauf, dass mein widerliches Verhalten in kürzester Zeit offenbar würde, versetzte mich in einen Zustand unvergleichlichen Glücks. Das, was nun käme, würde ich reumütig, aber bestimmt auf mich nehmen und danach zurückkehren können in die Zeit vor - nun, aber schließlich bin ich ja hier, Sie wissen also, dass es ein wenig anders gelaufen sein muss, als ich damals auf dem Stuhl neben meiner Mutter ahnte. Meine Mutter, die wohl zum ersten Mal so etwas wie Erleichterung gespürt haben musste, was mich anging, wurde sie doch in diesem Gespräch in Kenntnis davon gesetzt, was für außergewöhnliche, künstlerische Fortschritte ihr Sohn in kürzester Zeit gemacht hatte – sie glühte vor Stolz.

Ich glaube, ich muss Ihnen nichts davon erzählen, wie es sich für mich anfühlte, über alle Maßen gelobt zu werden, während ich mich nur danach sehnte, die süße Erlösung der Strafe zu spüren. An ihrer Stelle folgte die klassenübergreifende Ausstellung, die einmal im Halbjahr die besten künstlerischen Arbeiten einer Stufe präsentierte, und schließlich der Erfolg auf der späteren stadtinternen Abschlusspräsentation, auf der meine Arbeit mit dem ersten Preis in der Kategorie der unter 12-Jährigen prämiert wurde.

Das Schlimme daran war die plötzliche Öffentlichkeit meines Tuns. Und während alle Anwesenden ein gemaltes Stadtbild sahen, sah ich eine Masse an Menschen, die meinen H.-Zeichnungen Applaus spendeten. Die Weiterleitung an den Wettbewerb Ihrer Stiftung half dabei wenig. Sie bescherte mir nur noch mehr schlaflose Nächte, da Ihr Wettbewerb, damit erzähle ich Ihnen ja nichts Neues, nicht ausschließlich fertige Werke, sondern zudem explizit den Zeichenprozess honoriert. Mir ist bewusst, dass Sie damit verhindern wollen, dass Kinder, die von ihren Eltern beim Zeichnen Hilfe erhalten (was bei mir zu keinem Zeitpunkt der Fall war), einen ungerechten Vorteil genießen, aber Sie müssen genauso verstehen, dass ich bis zu diesem Punkt, an dem Sie mich baten, vor Publikum meinen Zeichenprozess zu rekonstruieren, lediglich an diesem einen Kunstwerk in meinem Schreibheft gearbeitet hatte und mir die Art und Weise, wie es dort entstand, eher wie eine Eskalation und nicht wie das Ausleben einer künstlerischen Neigung vorkam.

Trotz meiner daraus entstandenen Unsicherheit starrten alle Anwesenden, inklusive Ihnen, liebe Mitglieder der Kommission, aber natürlich auch noch Frau Kernberg, die als Vertretung für unsere Schulleiterin vor Ort war, und weitere dreihundert Menschen auf meine Hand, die zitternd einen Bleistift umklammerte. Frau Kernbergs und mein Blick trafen sich für einen Moment in der Mitte des Saals, und plötzlich hatte ich das unabweisbare Gefühl, dass jetzt endlich irgendetwas auf diese weiße Leinwand gestrichelt oder schraffiert werden müsse, also setzte ich meinen Bleistift auf das Papier und malte genau die rechtwinklige Form, von der all das hier ausging.